Inkrementalismus bezeichnet in Bezug auf Entscheidungen eine analoge Strategie, wie sie der Begriff in der Politik beschreibt: die Anlehnung an „Versuch und Irrtum“ sowie ein Vorgehen in kleinen Schritten. Gleichzeitig bietet der Inkrementalismus auch ein Konzept, welches in der Komplexität der Entscheidungssituationen, in welcher eine perfekte Rationalität nicht möglich ist, trotzdem ein gewisses Mass an Rationalität schaffen kann.
Charles E. Lindblom bezeichnete Inkrementalismus auch als „Science of muddling trough“, als die Wissenschaft des „Sich-durchwursteln“. David Collingridge benannte den Inkrementalismus als Methode von Versuch und Irrtum – nach seiner Meinung der einzige Weg, intelligente Entscheidungen zu fällen.
Der Inkrementalismus setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, die für diese Art der Entscheidungsfindung typisch sind. So werden künftige Entscheidungsprobleme nicht aktiv gesucht, sondern er-wartet. So ersparen sich Entscheidungshandelnde eine grosse Informationsverarbeitung und das Auffinden neuer Entscheidungsprobleme, von denen sie noch gar nichts wussten. Entscheidungsprobleme werden damit erst dann bearbeitet, wenn man sie nicht länger ignorieren kann.
Die zweite Komponente ist ein situativer Opportunismus, das heisst, die geeignete Anpassung an die jeweilige Situation – oder alltagssprachlich, wie es Uwe Schimank in „Die Entscheidungsgesellschaft“ formuliert – „ sein Fähnlein nach dem Winde hängen“. Dazu gehört auch „First things first“, basierend auf dem von John Maynard Keynes formulierten Grundsatz „In the long run we are all dead“. Die Kehrseite dieser Methode ist, dass eine kurzfristige Problemlösung verunmöglicht, genau dieses Problem mittelfristig zu lösen. Oder wie Schimank schreibt: „Das heutige Überleben für den morgigen Untergang.“
Die dritte Komponente ist eine „simple-minded search“ – die Ursachen des Problems werden nur in seinem unmittelbaren Umfeld gesucht. Diese Komponente ist aber auch ein Teil der für den Inkrementalismus typischen reduzierten Informationsverarbeitung.
Der Entscheider im Inkrementalismus überhört aber auch alles, was ihm eingeflüstert wird und orientiert sich bezüglich der sozialen Komplexität an die gegebenen Kräfteverhältnisse, die er nicht zu verändern versucht. Zudem agiert jeder Entscheider als „Wachhund in eigener Sache“, wie Schimank dies benennt – die Ausrichtung auf das Gemeinwohl, auf übergeordnete sachlich oder sozial relevante Gesichtspunkte, bleibt bescheiden.
Die vierte Komponente beschreibt die Zielsetzung der Entscheidung, die beim Inkrementalismus nicht in einem „maximizing“, sondern in einem „satisficing“ liegt. Und die fünfte Komponente entspricht dem von Charles E. Lindblom definierten „Sich-durchwursteln“. Das heisst zum Beispiel, dass die Wirkung der Umsetzung der Entscheidung nicht systematisch ausgewertet wird.
An der Berufs- oder Studienwahl kann der Inkrementalismus in unserer Lebensbiografie beispielhaft dargestellt werden. In den wenigsten Fällen wird diese aufgrund klarer Perspektiven getroffen. Meist sind es Neigungen und Interessen, die durch äussere Zwänge oder Gelegenheiten zu einer Wahl führen: Man studiert Tourismus, weil man gern reist oder wird Lehrerin, weil schon die Mutter Lehrerin war. Die Entscheidung wird nicht im Hinblick auf Gestaltungsmöglichkeiten in der Zukunft, sondern rein gegenwartsbezogen gefällt und statt den Horizont zu öffnen, werden Limitationen für die Wahl geradezu gesucht.
Die Verbindlichkeit dieser Entscheidung ist oft gering, von vorneherein werden mögliche Revisionen ins Auge gefasst und – wie die hohe Zahl an Studienabbrüchen und –wechsel zeigt – auch realisiert. Wobei für dieses Handeln nicht die äusseren Sachzwänge verantwortlich gemacht werden können, sondern wechselnde persönliche Interessen und eine Diskrepanz zwischen Erwartung und Wirklichkeit. Diese auf den ersten Blick als „falsch“ erscheinende Studienwahl ist jedoch keine Verirrung oder Abweichung von einem festgelegten (Lebens)weg, sondern vielmehr ein erforderlicher und den Lebensweg mitaufbauender Umweg.
„Inkrementalistisches Entscheiden muss stets damit rechnen, Fehler zu machen. «Sich-durchwursteln» ist der dazugehörige prozedurale Modus der Fehlerkorrektur“, schreibt Uwe Schimank. Dies setzt wiederum voraus, dass die Entscheidungen fehlerfreundlich sind. Eine Fehlerfreundlichkeit hilft dem Entscheider dann, wenn sich eine Entscheidung im Nachhinein als Fehlentscheidung herausstellt. Da sich der Entscheider schon vor der Entscheidung dessen bewusst wird, reduziert sich seine Qual vor der Wahl dadurch, dass bereits Vorkehrungen getroffen wurde, um die Qual nach der Wahl zu begrenzen.
Ein weiterer Aspekt des Inkrementalismus ist die Redundanz, ein gewisses Mass an Überschuss. So lässt sich im Bildungssystem eine Strukturredundanz im Hinblick auf bestehende Ausbildungskapazitäten feststellen. Die individuelle Freiheit der Berufs- und Studienwahl ist ein erheblicher Unsicherheitsfaktor für die Anbieter und führt dazu, dass die meisten Ausbildungsgänge kapazitätsmässig erheblich über dem tatsächlichen und üblicherweise erwarteten Bedarf ausgelegt werden. Und Ressourcenredundanz im Hinblick auf das abnehmende Wirtschaftssystem stellt das Bildungssystem sicher, indem mehr Fachkräfte als benötigt ausgebildet werden und das berufliche Qualifikationssystem breiter ist als die geforderten Qualifikationen.
Die Kritik am Inkrementalismus kann in einem Zitat des französischen Philosophen, Moralisten und Schriftsteller Luc de Clapiers Marquis de Vauvenargues zusammengefasst werden: „Man verachtet kühne Pläne, wenn man sich grosse Erfolge nicht zutraut.“