Ja natürlich haben wie sie, die Zweiklassengesellschaft.

In verschiedensten Bereichen – und nicht erst seit der Zertifikatspflicht.

Gerade in letzter Zeit wurde mir dies wieder bewusst(er). Sei es bei Reisen aus beruflichen Gründen, bei denen ich dank unseres Spesenreglements die 1. Klasse belegen darf. Oder vor zehn Tagen, als ich wegen einer Operation für einige Tage im Spital war – in der Privatabteilung. Da hatte ich neben dem Viergangmenu noch zusätzlich die luxuriöse Möglichkeit, à la carte zu bestellen. Im öffentlichen Verkehr kann ich zudem wählen, ob ich es lieber ruhig habe oder ob ich akzeptiere, dass sich die anderen Reisenden miteinander unterhalten und ich mithören muss.

Auch in der Bildung gibt es eine Zweiklassengesellschaft.

Ein Artikel in der heutigen SonntagsZeitung über Klasseneinteilungen per Algorithmus erinnerte mich an meine Zeit als Schulleiter. Als ich begann, war es üblich, dass Kinder, die links der Bahnhofstrasse wohnen, auch auf dieser Seite zu Schule gehen. Das gleiche galt natürlich auch für die rechte, eher bildungsfremde und multikulturelle Seite des Dorfes.

Zusammen mit meiner Schulleitungskollegin haben wir diese Tradition gebrochen und so eine bessere Durchmischung der Klassen erreicht – was sich auch spürbar auf die Arbeitsbelastung und die Motivation der Lehrpersonen auswirkte.

An unserer Fachhochschule beginnt morgen das neue Semester auch mit einer Zweiklassengesellschaft. Mit dem Modus «synchron-hybrid.light» werden die Klassen in zwei Gruppen eingeteilt, die eine ist vor Ort im Präsenzunterricht, die andere zuhause und verfolgt den Unterricht per Videostream – wobei zwischen den Gruppen wöchentlich gewechselt wird. Dies aber mit den Einschränkungen, dass Fragen nur innerhalb eines definierten Slots gestellt werden können, eine direkte Teilnahme am Unterricht nicht möglich ist und die Dozierenden die Möglichkeit haben, z. B. bei Gruppenarbeiten den Stream zu unterbrechen.

Diese Beispiele für eine Zweiklassengesellschaft sind natürlich nur exemplarisch und könnten beliebig auf andere Bereiche ausgeweitet werden – Frauen und Männer in der Arbeitswelt, einkommensstarke und -schwache Bevölkerungsschichten, Arbeitende und Arbeitslose…

Die letzte Woche vom Bundesrat verordnete Zertifikatspflicht für Restaurants, Fitnesscentren, Museen etc. wird von einigen Menschen als Grund für die Spaltung der Gesellschaft und für eine dadurch entstehende Zweiklassengesellschaft gesehen.

Es mutet aus meiner Sicht auf den ersten Blick etwas befremdend an, dass erst gegen dieses Zertifikat Opposition wächst, denn beispielsweise gegen den zertifikatspflichtigen Alkoholausschank (ab 18, persönlicher Ausweis erforderlich) oder gegen das zertifikatspflichtige Führen von Motorfahrzeugen (Führerausweis) gibt es diese nicht.

Die Gegner der Zertifikatspflicht führen immer wieder ihre persönliche Freiheit ins Feld, die durch diese Verordnung eingeschränkt werde. Und wenn man sie mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer Impfung oder Testung konfrontiert, kontern sie mit verordnetem «Zwang» und damit wiederum einer Nichtberücksichtigung ihrer persönlichen Freiheit.

Die persönliche Freiheit ist einer von zwei Polen im gesellschaftlichen Leben und definiert sich durch die Grenze zur persönlichen Freiheit der anderen. Ohne diese Grenze gäbe es diese Freiheit nicht. Unfreiheit wäre der Gegenpol – dessen Wirkung man sich einfach vor Augen führen kann, wenn dieser Begriff auf verschiedene Lebensbereiche übertragen wird. Keine Wahl- und Entscheidungsmöglichkeit, keine Bewegungsfreiheit, kein umsetzbarer eigner Wille…

Meine persönliche Freiheit geht so weit, wie sie die persönliche Freiheit meiner Mitmenschen nicht einschränkt. Wenn also die Gegner der Zertifikatspflicht ein höheres Risiko einer Ansteckung in Kauf nehmen, ist das ihre persönliche Freiheit, die ihnen niemand streitig machen will. Aber wenn damit ein höheres Risiko einer Ansteckung anderer Menschen damit verbunden ist, überschreitet dies die Grenzen der individuellen Freiheit.

Ja natürlich ist mir klar, dass z.B. auch Geimpfte das Virus übertragen können. Aber da wäre ja auch noch das Argument eines milderen Verlaufs der Krankheit bei Geimpften und die damit reduzierte Belastung des Gesundheitssystems.

Und wie war das doch nochmals vor der Pandemie mit Eintritten zu öffentlichen Konzerten oder zu Sportevents – ohne Zertifikat (Ticket) kein Eintritt. Auch wenn ich keine Einladung zu einer geschlossenen Gesellschaft habe, komme ich nicht hinein.

Zweiklassengesellschaft?

Wenn ich mir die Argumente der Gegner anhöre, komme ich mir oft vor, als wäre ich im falschen Film.

«Haben Sie nicht Bedenken, dass Sie andere Menschen anstecken könnten»? «Es ist wichtig, dass man seinem Immunsystem Sorge trägt und dieses stärkt.»

«Aber sie haben doch auch ein höheres Risiko, dass Sie bei einer Ansteckung hospitalisiert werden müssen.» «Das Problem ist nicht die aktuelle Auslastung, sondern dass wir weniger Intensivpflegeplätze als letztes Jahr haben.»

Eine andere Befragte antwortete auf die Frage nach der Auslastung der Intensivstationen mit «Das glaube ich nicht.»

Etwas gar einfach, Fragen auszuweichen oder diese mit Falschinformation in Verbindung zu bringen… Von einem Kantonsspital weiss ich, dass deren Intensivstation (IPS) dreissig Mitarbeitende weniger zur Verfügung steht als noch vor einem Jahr. Auch, weil die Abgänge bis vor kurzem nicht kompensiert werden konnten. Und da andere Spitäler ihre Covid-Intensivpatienten dieser IPS überweisen, um Kapazitäten für andere Eingriffe zu haben, kommt diese an ihre Grenzen.

Vielleicht würden diese «glaube ich nicht»-Menschen die Situation besser verstehen, wenn sie mal einen Tag auf einer IPS arbeiten würden. Falls sie einen Tag durchstehen würden… Aus eigener Erfahrung kenne ich leider den IPS-Betrieb und habe als Besucher über mehrere Wochen miterlebt, welcher Belastung das Pflegepersonal ausgesetzt ist. Ich würde nicht tauschen!

Das Gesundheitssystem ist ein Wirtschaftszweig, der versucht, rentabel zu sein. Und da kann es passieren, dass bei einer momentanen Unterbelegung IPS-Pflegeplätze aufgehoben werden. Was nicht heisst, dass ich das gut finde.

Noch vor Einführung der Zertifikatspflicht habe ich in einem Restaurant erlebt, wie eine Gruppe Gegner nach einer Demonstration im Innern etwas konsumieren wollten. Als sie der Chef de Service auf die Maskenpflicht hinwies, verliessen sie protestierend das Restaurant. Hätte er sie eingelassen, hätte wohl das Restaurant die grösseren Probleme bekommen als die Gruppe…

Ja, ich erlebe diese Zweiklassengesellschaft auch. Aber vielleicht nicht so, wie dies immer proklamiert wird.

Wenn in Städten Tempo 30 eingeführt wird, hält sich die Opposition in Grenzen. Auch wenn nicht ganz klar ist, welche positiven Auswirkungen dies auf die Anzahl Verkehrsunfälle und auf die Umwelt hat. Als Bürger bleibt mir die Möglichkeit, mich an diese Vorschriften zu halten oder sie zu ignorieren – verbunden mit der Gefahr, gebüsst oder (für eine gewisse Zeit) aus dem Kreis der Fahrzeuglenker ausgeschlossen zu werden.

Noch habe ich nicht verstanden, warum gerade beim Thema Impfen, bei der Zertifikatspflicht und schon früher grundsätzlich bei allen Regelungen, mit denen versucht wurde, die Pandemie einzudämmen, die Opposition so gross – und vor allem emotional – ist. Auch wenn sich die Gegner mit Freiheitseinschränkung, Staatskontrolle, Verschwörung oder Entzug der Selbstverantwortung zu erklären versuchen.

Und die Schuld auf die Politik und alle, die deren Vorgaben folgen, gewälzt wird.

Denn nach wie vor haben wir ein grosses Mass an persönlicher Freiheit. Die Freiheit, zwischen Impfung oder nicht zu wählen, zwischen Impfung und Testung, um zum Zertifikat zu gelangen, die Wahl zu entscheiden, wie wichtig mir ein Restaurantbesuch (im Innern) oder mein Fitnesscenterbesuch ist.

Oder welchen Stellenwert ich meiner persönlichen Freiheit beimesse beziehungsweise wie hoch meine Bereitschaft ist, diese für das Gemeinwohl (voraussichtlich für eine begrenzte Zeit) einzuschränken.

Der Anstieg der Impfquote nach Einführung der Zertifikatspflicht zeigt, dass wohl für gewisse Menschen die Entscheidung nicht zwischen sich und der Gemeinschaft gefällt werden muss, sondern der eigene Nutzen im Vordergrund steht – wenn ich ohne Zertifikat noch mehr eingeschränkt werde, lasse ich mich halt doch impfen…

Ich wünsche mir für die Zukunft eigentlich nur, dass wir trotz unterschiedlichen Meinungen wieder miteinander reden können, uns und unsere Meinungen gegenseitig akzeptieren, ohne Schuld zuzuweisen oder Andersdenkende zu verunglimpfen, unser Dasein als Beitrag zu einem gemeinsamen Grossen sehen und zusammen etwas bewegen.

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