Um nochmals auf meine letzten Blogbeitrag zurückzukommen: Wenn der Bundesrat als politische Organisation nun die Restaurants für einen Monat schliesst, hat dies auf der Grundlage eines politischen Programms (= selbstreferentieller Aspekt) ökonomische Auswirkungen (= fremdreferentieller Aspekt), das ökonomische und das politische System sind operativ miteinander gekoppelt.

Ob die Politik die Gastronomie aber als (ökonomisch) systemrelevant beurteilt, wird sich erst zeigen, wenn feststeht, wie die Kantone und/oder der Bund deren über 200’000 Mitarbeitende – das sind rund vier Prozent der Erwerbstätigen in unserem Land – für den Erwerbsausfall entschädigen werden.

Sicher systemrelevant aus Sicht des Bundesrates scheint die Gastronomie jedoch für das Gesundheitssystem, sonst wäre keine Schliessung notwendig gewesen.

Da sich nach Luhmann Interaktionssysteme wie Gruppen durch Kommunikation und Anwesenheit konstituieren, ist die Gastronomie – oder genauer gesagt jeder seiner Betriebe – auch Teil eines Restaurant-Gäste-Systems. Da dieses nun stillgelegt ist, hat dies auch Auswirkungen auf die Systeme, in welchen jeder der Gäste ebenfalls interagiert. Zum Beispiel auf sein Freundessystem, das nun keine Möglichkeit mehr hat, sich für ein Feierabendbier zu treffen – umso mehr, als die sozialen Kontakte auch ausserhalb von Restaurants eingeschränkt werden sollen.

Dieses Beispiel beschreibt nur ansatzweise einen Teil einer systemischen Sichtweise – einer Sicht- und Denkweise in Wechselbeziehungen, die sich nicht auf eine Kausalität Ursache-Wirkung beschränkt, sondern diesen Zusammenhang als Schleifen (loops) betrachtet.

So, wie wenn ein Kapitän ein Schiff in den Hafen lenkt, nach Steuerbord korrigiert und fast gleichzeitig wieder nach Backbord justieren muss, damit das Boot auf Kurs bleibt. Eine Ursache (Korrektur nach Steuerbord) hat eine Wirkung (Boot driftet nach Steuerbord)), die wiederum Ursache für eine neue Wirkung (Boot droht wegen seiner Trägheit nach Steuerbord zu übersteuern) ist.

Ob der Bundesrat in Loops denkt, bleibt dahingestellt – doch hier nun ein Blick auf die systemische Sichtweise und was diese beinhaltet.

Systeme stehen in Wechselbeziehung, das heisst unsere gesamte Wirklichkeit ist ein vernetztes und verschachteltes Gefüge von Systemen, deren Bestandteile und Elemente in Wechselbeziehung stehen.

Deshalb sollte unser Fokus auf Wechselbeziehungen und Muster liegen, den diese bilden die Struktur der Wirklichkeit, nicht die Elemente und Details.

Die Wechselbeziehung selbst ist das Ergebnis eines rekursiven und zirkulären Prozesses. Das heisst, nur die Muster sind erkennbar, nicht aber die Gründe und Ursachen – diese bleiben Hypothesen, wie wenn zum Beispiel soziale Konflikte als Grund für eine Störung vermutet werden.

Wechselbeziehungen müssen in einen grösseren Zusammenhang bzw. Kontext eingebunden werden, denn Interaktion selbst ist auch ein System, welche durch die Umwelt und Vorerfahrungen beeinflusst wird.

Der Fokus sollte nicht nur auf Wechselbeziehungen, sondern auch auf die Unterschiede zwischen Systemen und im System selbst gelegt werden. Denn wir konstruieren unsere Welt und deren Wahrnehmung, unsere Realität, über Unterschiede.

Systemischen Denken und Handeln ist ein zirkulärer Prozess der Konstruktion sozialer Wirklichkeit, indem wir die Systeme, deren Mitglieder und unsere eigene Stellung aus einer persönlichen Perspektive interpretieren.

Eine systemische Sichtweise geht von einer Fähigkeit der Selbstorganisation und Selbstregulation aus – Systeme in Wechselbeziehung tendieren zum Gleichgewicht wie beispielweise unser biologisches System (Homöostase).

Selbstorganisation und Autonomie sind in einer systemischen Sichtweise Pole, kein Widerspruch. So macht es Sinn, kleinen Systemen (z.B. Teams) Autonomie zu gewähren für ein selbständiges und selbstverantwortliches Gesamtsystem.

In einer systemischen Sichtweise liegt ein weiterer Fokus auf Ressourcen, Fähigkeiten und Stärken, denn ein positiver Fokus setzt positive Entwicklungen und notwendige Veränderungen in Gang.

Und ein weiterer Fokus richtet sich auf Zukunft und Lösungen, da ein Blick zurück nicht mehr ist al Interpretation, konstruierte Vergangenheit und eine problemverschärfende Selbsthypnose.

Wenn wir nun die Grundsätze der systemischen Sichtweise auf die Schliessung der Restaurants anwenden, sehen wir, dass

  • die Gastronomie als eines der Elemente (für eine Ansteckungsgefahr) betrachtet wird, der Fokus liegt nicht auf der Wechselbeziehung zu anderen Systemen,
  • der Grund für eine erhöhte Ansteckungsgefahr in Restaurantbesuchen gesehen wird, eine Hypothese bleibt,
  • die Interaktion mit einem grösseren Zusammenhang bzw. Kontext selbst nicht als System betrachtet wird,
  • kaum ein Fokus auf Unterschiede zwischen dem System Gastronomie und anderen Systemen und im System selbst gelegt wird,
  • das System aus einer persönlichen bzw. kollegialen Perspektive interpretiert wird,
  • dem System die Fähigkeit der Selbstorganisation und Selbstregulation abgesprochen wird,
  • die Möglichkeit eines Systemautonomie nicht gewährt wird,
  • der Fokus nicht auf Ressourcen, Fähigkeiten und Stärken, aber auch nicht auf Zukunft und Lösungen gelegt wird.

Aber wie beschrieben ist dies nur eine andere, eine systemische Sichtweise.

Gerade in dieser Zeit prallen gegensätzliche Sichtweisen aufeinander, wobei ich bei beiden Seiten eine systemische vermisse.

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