„How does Marrakech succeed in covering all five senses in touristic fields and how can they be combined with the modern influences?” heisst die Forschungsfrage der Gruppe Marrakesch, die ich seit Freitag auf ihrer Study Week abroad 2013 begleite. Zehn junge Frauen des Instituts für Tourismus der HTW Chur versuchen zu ergründen, warum die „Perle des Südens“, die Königsstadt am Fusse des Atlas im Südwesten Marokkos, auch die „Stadt der Sinne“ genannt wird.

„Riechen Sie die Gewürze in den Souks, testen Sie den Geschmack der Tajine und des Minztees in einem Café, hören die Rufe zum Gebet von den Minaretten, schauen Sie die die Störche auf den roten Mauern an, berühren Sie eine Schlange auf dem Jemaa El Fna“, wird eine mögliche Wahrnehmung von Marrakesch über die fünf Sinne auf einer der zahlreichen Reisetippseiten im Internet beschrieben. Die Souks bilden einen riesigen Basar, in welchem einheimische Händler ihre Ware verkaufen – landestypische Souvenirs wie Gewürze, bunte Tücher, Lederwaren und Lampen. Der Jemaa el Fna ist der zentrale Marktplatz von Marrakesch, auf dem sich täglich Touristen wie auch Einheimische zu Tausenden einfinden und vergessen lassen, dass der Name des Platzes („Versammlung der Toten“) darauf hinweist, dass die Sultane zur Zeit der Berberdynastien den Platz als Hinrichtungsstätte nutzten und aufgespiesste Köpfe hier zu Schau stellten.

Doch schon auf dem Jemaa el Fna alleine ist die Wahrnehmung dieser pulsierenden Stadt über alle Sinne spürbar. Wer zum Beispiel dort in einem der zahlreichen Restaurants zum Nachtessen bleibt, muss sich darauf einstellen, dass der akustische Sinn weniger für die Unterhaltung am Tisch eingesetzt werden kann, als vielmehr permanent durch das Getrommel auf dem Platz torpediert wird. Von den vielen Essensständen ziehen duftende Rauch- und Dampfschwaden vorbei, und die beleuchteten Häuser und Türme tauchen den Platz nach Sonnenuntergang in ein rötlich-braunes Licht. Wer eine Tajine oder Tagine bestellt, muss beim Heben des Deckels dieses in der nordafrikanischen Küche eingesetzten runden, aus gebranntem Lehm bestehenden Schmorgefässes auch seinen Tastsinn einsetzen und wird erstaunt sein, dass die Spitze des Deckels trotz grosser Hitze im Innern kalt bleibt. Der Sinn des Schmeckens kommt dann beim Essen des gleichnamigen Gerichtes zum Zuge.

Auf einer privaten Stadtführung erfahren wir dann auch von unserem Guide, dass er lieber seinen Gästen die Wahrnehmung über alle Sinne ermöglicht, als darüber zu sprechen. Seine Aussage bestätigt weitere Erfahrungen, die wir während der ersten Tage machen – unsere Businesspartner, die wir treffen, verstehen zuerst nicht richtig, was damit gemeint ist, wenn die Studentinnen fragen, ob sie in ihrem Angebot bewusst auf die Wahrnehmung über alle Sinne eingehen. Jedoch beinahe im gleichen Atemzug zeigen sie auf, dass sie ihren Gästen eine Wahrnehmung über mindestens mehrere Kanäle ermöglichen.

Das konkrete Beispiel von heute Sonntag (2. Juni 2013): Auf der Fahrt in die Wüste zur Heissluftballonfahrt lassen die Fahrer der beiden Autos einen bunten Mix an Musik laufen, der am frühen Morgen – Abfahrt vom Riad, dem in Marrakesch typischen Übernachtungsort, ist kurz nach fünf Uhr – sanft auf den langsam beginnenden Tag einstimmt. Wie ich später erfahre, bin ich nicht der Einzige, der sich für die Interpreten auf dieser CD interessiert. Zur Überraschung aller erhalten wir beim Eintreffen im Berberzelt nicht nur Kaffee und Croissants, sondern auch die besagte CD!

Der Flug vermittelt visuelle Eindrücke, die begeistern, das anschliessende Frühstück im Berberzelt auch neue gustatorische. Die Kombination der Heissluftballonfahrt mit einem kurzen Kamelritt schliesst dann auch die restlichen zwei Sinne ein: den taktilen über die wiegende Bewegung auf dem Kamelhöcker, der deutlich macht, warum die Altweltkamele (Kamele und Dromedare) auch „Wüstenschiffe“ genannt werden, und die olfaktorische Wahrnehmung über den für dieses Transportmittel typischen Duft…

Zeit.Punkt 22: Sonnenaufgang in der Wüste nahe Marrakesch, 2. Juni 2013, 06.40 Uhr

Marrakesch zeigt aber auch auf, dass wir nicht unbegrenzt in der Lage sind, so viele und neue Eindrücke auf allen Kanälen wahrzunehmen. Die Stadt macht müder als ich es in anderen Städten erlebt habe. Die dauernde Aktivierung mehrerer oder aller Sinne strengt an, irgendwann ist man nicht mehr in der Lage, alles aufzunehmen. So erlebt während unserer Stadtführung: Unser Guide hat uns so viel Informationen vermittelt – oder es zumindest versucht – dass allein schon der akustische Kanal überflutet wurde. Dazu kamen die unzähligen visuellen Eindrücke, deren Reize noch stärker werden, wenn man nach speziellen Fotosujets – oft auch kleinen Details – Ausschau hält. Aber auch die verschiedenen Gerüche in den Strassen, der Menschen und der unzähligen Motorräder sowie die zahlreichen Körperkontakte in den Menschenmassen und der nicht enden wollende Lärm.

Und selbst die gustatorische Wahrnehmung wird während dieser Führung angesprochen, wenn auch nur über eine Sehnsucht: Im muslimischen Land Marokko bleibt der Wunsch nach einem kühlen Bier bis zur Rückkehr ins Riad ein Wunschtraum – Alkohol ist in den Restaurants und Cafés nicht erhältlich.

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