Aus der Stille werden die wahrhaft grossen Dinge geboren.
(Thomas Carlyle)

Schlicht „Stille“ heisst das Buch des norwegischen Abenteurers Erling Kagge, der als erster in der Geschichte die „drei Pole“ erreicht hat – den Süd- und Nordpol und den Mount Everest. In dreiunddreissig Geschichten setzt er sich mit dem Erleben der Stille und seinen Erfahrungen mit derselben auseinander – eindrückliche und poetisch schöne Texte.

Die Stille hat Kagge nicht nur auf seinen Expeditionen begleitet, sondern ist auch Thema in seiner Familie, in den Diskussionen mit seinen drei Töchtern, die sich zu Beginn noch schwer tun, sich damit auseinanderzusetzen: „Stille ist einfach ein Ausweg, wenn man alles satt hat. Darüber hinaus hat sie keinen Wert.“

Ihr Vater hingegen sieht die Stille als etwas Aktives, sie soll reden, ja das soll die Stille tun. Sie soll reden, und du sollst mit ihr reden und das Potential nutzen, das darin liegt. Doch für ihn gibt es nicht nur die Stille um ihn herum – viel interessanter ist für ihn die, welche in ihm ist.

Beziehung zur Welt

Die Stille in seinem Innern suchen heisst für Erling Kagge nicht, dass man damit die Welt ausgesperrt, dass man damit seiner Umgebung den Rücken kehrt. Im Gegenteil: „Es heisst, die Welt ein wenig deutlicher zu sehen, eine Richtung beizubehalten und zu versuchen, das Leben zu lieben.“

Oder wie es Martin Heidegger ausdrückte: „Die Welt verschwindet, wenn man darin aufgeht.“

Stille kann aber auch langweilig sein, ausschliessend, unangenehm und auch beängstigend. Sie kann, so Kagge, „Zeichen von Einsamkeit sein. Oder Trauer. Die Stille danach ist schwer.“

Und trotzdem ist die Stille nicht nichts. Vielmehr entsteht in und durch sie etwas. Stille gibt die Möglichkeit, eine Pause einzulegen und Dinge wieder zu entdecken, die uns Freude bereiten.

Angst vor Langeweile

„Die ständige Flucht vor uns selbst ist eine so brutale Realität, dass wir Menschen es vermeiden, darüber nachzudenken“, beschrieb Blaise Pascal bereits im 17. Jahrhundert treffend unsere heutige Lebensweise. Die Angst vor Langeweile treibt uns an, wir suchen Aktion, Abwechslung, Ablenkung. Doch Kagge warnt: „Je mehr wir gestört werden, desto mehr wünschen wir uns abgelenkt zu werden“. Oder: „Je mehr du unternimmst, um dich nicht zu langweilen, desto mehr langweilst du dich.“ Ein Teufelskreis.

Es scheint für uns einfacher und zufriedenstellender zu sein, etwas zu erwarten, etwas zu suchen, als einfach damit zufrieden zu sein, dass wir erreicht haben, was wir wollten. Doch manchmal, so der Autor, ist es vernünftiger, das Leben schwieriger als nötig zu gestalten.

Sonst könne es passieren, dass man wie die alten Entdecker zur See fährt, und wenn man zurückkehrt, möglicherweise das, wonach man gesucht hat, in sich selbst findet.

Stille zu finden heisst, das, was man tut, von innen zu betrachten – erfahren ohne zu viel zu denken. Bewusst zu leben. Denn Kragge glaubt, dass wir den Tod in unterschiedlichem Mass fürchten, doch es scheine, dass unsere Furcht, nicht gelebt zu haben, noch stärker ist.

Sein Rat: „Du musst dir deine eigene Stille schaffen.“

Stille in der Beziehung

Für Erling Kagge ist die Stille ein Werkzeug, um der Umgebung zu entkommen. Ruhe lässt sich dann finden, wenn wir zu denken aufhören und nichts tun können. Denn die Stille ist ebenso inhaltsreich wie die Wörter. Stille ist, wenn sich die Sprache selbst zuhört.

Stille ist auch ein einer zwischenmenschlichen Beziehung von grösster Bedeutung. Marie-Henri Beyle, besser bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal, ein französischer Schriftsteller (1783 – 1842), charakterisiert Liebe durch ihren Ernst: „Es gibt in einer glücklichen Beziehung immer einen kleine Zweifel. Dieser Zweifel, das ist die Sehnsucht jeden Augenblicks, das ist die Sonne der glücklichen Liebe.“

Für Kagge hingegen ist Liebe, „wenn wir es schaffen, zusammen still zu sein. Denn wenn ein Partner dich nicht versteht, wenn du still bist, ist es für ihn vielleicht noch schwieriger, dich einzuschätzen, wenn du redest.“

Oder einander zuzuhören, denn zuhören bedeutet, nach neuen Möglichkeiten zu suchen und nach neuen Herausforderungen Ausschau zu halten. Oder wie es der persische Dichter Rumi (13. Jahrhundert) formulierte: „Jetzt muss ich still sein und die Stille entscheiden lassen, was Wahrheit ist und was Lüge.“

Lebens.Punkt: Gsponbach im Aufstieg zur Alp Unter Mürtschen, 4. August 2018

Mein Rückzugsort

Ich habe beinahe den ganzen Sommer in meinem neuen Ferienhaus auf Brambrüesch verbracht. Oft alleine, ohne Nachbarn um mich herum. In der Stille, in der ich meine Ruhe finden konnte. Denn auch für mich gilt das Charakteristikum, dass es meist zufriedenstellender, unterwegs zu sein, als im Ziel anzukommen. Auch ich ziehe, um in Kagges Worten zu sprechen, die Jagd auf den Hasen der Beute vor.

Oder wie es Kagges Töchter nach längerer Diskussion mit ihrem Vater über die Stille erkannten: „Stille ist das einzige Bedürfnis, das diejenigen, die ständig auf der Jagd nach etwas Neuem sind, niemals erfahren werden.“

Es braucht Zeit, sich an die Stille zu gewöhnen, den Mut zu haben, Radio und Fernseher ausgeschaltet zu lassen. Um dann zu erfahren, wie die Stille zu sprechen beginnt – durch das Rauschen der Bäume im Wind oder durch das Summen der Hummeln auf den Blumen meiner Wiese. Und wie sich die Aufmerksamkeit auch optisch verstärkt, Details in der Natur und der Umgebung plötzlich wahrgenommen werden, die vorher übersehen wurden.

Meine Erkenntnisse decken sich mit Erling Kagges Aussage: „Es wurde noch nie ein Roman geschrieben, der mehr erzählt, als du erlebst hast.“

Und ja, Erling – ich habe meinen eigenen Südpol gefunden, wie du es uns allen zutraust.

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