Mit der Frage «Was sind deine Werte?» fordert meine Arbeitgeberin aktuell alle Studierenden und Mitarbeitenden auf, ihr ihre Werte mitzuteilen. Alle zurückgemeldeten Werte werden dann in einer digitalen Wertematrix aufgenommen und in den weiteren Strategieentwicklungsprozess eingebunden.
Diese Mitteilung regt mich an, mich mal etwas näher mit dem Begriff «Werte» zu befassen.
Werte sind neutral zu verstehen, können also Gutes wie auch schlechtes beinhalten und beschreibt das, was Menschen für sich und andere als erstrebens- oder wünschenswert erachten.
Werte bestimmen die persönliche Haltung, beeinflussen das Verhalten und bilden die Grundsätze für das Zusammenleben. Meine persönlichen Werte bestimmen auch, wie ich mich entscheide.
Werte entstehen und entwickeln sich aus unseren Grundbedürfnissen (Nahrung, Schlaf, Sicherheit, Eigenständigkeit, Selbstverwirklichung etc.), aus den Ansprüchen an ein funktionierendes Zusammenleben – aber auch aus religiöser oder politischer Überzeugung oder aus philosophischen Überlegungen.
Der österreichische Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe Reinhard Haller schreibt in «Das Wunder der Wertschätzung»:
«Werte unterliegen individuell als auch gesellschaftlich einem Wandel. Sie sind abhängig von Kulturen und neuen sozialen Strömungen, von technischem Fortschritt und Wissenszuwachs, von Zeitgeist und Mode. Der allgemeine Wertewandel wird durch den Wegfall alter Normen, die Krise der Institutionen, die sich auflösende Bindung an Religionen sowie die Tendenz zur Autonomie und Selbstverwirklichung beschleunigt. Eine pluralistische Gesellschaft, wie in der westlichen Welt, ist durch andere, vielfältigere und individuellere, aber auch flexiblere und kurzlebigere Werte beeinflusst als traditionelle Kulturen.»
Wie haben sich unsere Werte durch die Krise verändert – oder wie werden sie sich verändern?
In seinem White Paper «Der Corona-Effekt» beschreibt das Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main vier Zukunftsszenarien:
- Die totale Isolation: Alle gegen alle
- System-Crash: Permanenter Krisenmodus
- Neo-Tribes: Der Rückzug ins Private
- Adaption: Die resiliente Gesellschaft
Die vier Zukunftsszenarien werden auf zwei zentrale Basiskoordinaten eingeordnet, welche die prinzipiell möglichen Entwicklungsrichtungen beschreiben:
- Gelingende Beziehungen versus nicht gelingende Beziehungen (optimistisch versus pessimistisch)
- Lokal versus global (disconnected versus connected)
Szenario 1 (disconnected, pessimistisch) beschreibt eine Welt, in der jeder für sich schaut, jeder sich selbst der Nächste ist und Grenzen geschlossen werden, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Die Menschen zieht es raus aufs Land, zur Selbstversorgung, um nicht von Importen abhängig zu sein (die ja auch Keime importieren könnten), die Produktion lebenswichtiger Güter wird in die unmittelbare Nähe ausgelagert. Das öffentliche Leben ist zum Erliegen gekommen, Grossveranstaltungen finden keine mehr Stadt, die Menschen meiden Restaurants und Bars. Die Kontakte untereinander finden – vor allem in den Städten – im virtuellen Raum statt.
Szenario 2 (connected, pessimistisch) fokussiert auf nationale Interessen und verunmöglicht das Vertrauen in internationale Zusammenarbeit. Die Angst vor einer neuen Pandemie führt auch bei kleinsten Anzeichen einer Ausbreitung zu drastischen Massnahmen, Grenzschliessungen und Ressourcenverteidigung. Die Überwachung gewinnt an Bedeutung, die Privatsphäre geht weitgehend verloren – Big Data regiert die Welt.
Szenario 3 (disconnected, optimistisch) sieht eine Rückentwicklung der globalisierten Gesellschaft zu stärkeren lokalen Strukturen. Die Menschen ziehen sich aus Angst vor der Ansteckung zurück in ihr Privatleben, ihre eigene Häuslichkeit. Grossveranstaltungen werden durch Virtual Reality ersetzt, Nachbarschaftshilfe wird grossgeschrieben, Menschen vermehrt aufs Land oder in kleinere Städte. New Work mit einem grösseren Anteil an Homeoffice bestimmt die Flexibilität in der Arbeitswelt, internationale Unternehmen vereinbaren Meetings nur noch virtuell.
Im Szenario 4 (connected, optimistisch) lernt die Weltgesellschaft aus der Krise und entwickelt resiliente, adaptive Systeme. Die Menschen reflektieren die Herkunft der Güter kritischer, entdecken heimische Alternativen neu. Die Gesellschaft bewegt sich weg von Massenkonsum und Wegwerf-Mentalität, hin zu einem gesünderen Wirtschaftssystem. Gesundheit wird nun ganzheitlicher betrachtet und nicht mehr nur auf den individuellen Körper und das eigene Verhalten bezogen – Umwelt, Stadt, Politik, Weltgemeinschaft sind ebenfalls wichtige Faktoren für die menschliche Gesundheit.
Interessante mögliche Bilder unserer Gesellschaft, die hier entworfen werden. Die zukünftige Realität dürfte wohl eine Mischung aus allen Szenarien oder einen mehr oder weniger starke Ausprägung der Prognosen sein.
Ausser es bleibt alles, wie es war.
Oder wie es der österreichische Zeitforscher Franz J. Schweifer formuliert: «Die Pandemie schafft keine neuen Muster. Sie schärft bestehende.»
Meine Arbeitgeberin hat sich während der Krise «digital persönlich» auf die Fahne geschrieben. Das Persönliche sei für sie ein wichtiger Wert, heisst es im Begleitschreiben.
Doch ist «digital persönlich» überhaupt möglich?
Die Erfahrungen der letzten Wochen haben gezeigt, dass es äusserst schwierig ist, diesen Grundsatz zu leben. Persönlich erfordert Beziehung, die über virtuelle Kanäle stark eingeschränkt ist.
Die Rückmeldungen der Studierenden und Mitarbeitenden werden zeigen, ob «digital persönlich» beziehungsweise «persönlich» auch in Zukunft für sie ein wichtiger Wert sein wird.
Gespannt bin ich auch auf die Auswertung in Form einer Wertematrix, die aus meiner Sicht ja nur darstellt, welche Werte für unsere Kunden und Beteiligten von Bedeutung sind.
Die Organisation selbst muss für sich ihre Werte definieren. Denn es reicht nicht aus, die Werte, welche aus der Umfrage resultieren, als Unternehmenswerte zu übernehmen. Vielmehr sollten diese von der Basis her gemeinsam erarbeitet werden und alle Beteiligten sich zu den definierten Werten verpflichten.
So wie unsere Studierenden im Rahmen der Einführungstage pro Klasse ein Commitment mit den für sie wichtigsten fünf Werten erarbeiten.
Denn Unternehmenswerte sind das Fundament einer Unternehmenskultur, welche die Identität des Unternehmens bestimmen und den Mitarbeitenden Handlungsstrategien für die Zusammenarbeit mit Kunden und Kollegen bieten.
Und Werte müssen (vor)gelebt werden, um ihrer Bedeutung für die Unternehmenskultur gerecht zu werden.