Das Deutschschweizer Wort des Jahres ist «systemrelevant».
Wie bereits 2008 rund um die Finanzkrise.
Nur dass es sich jetzt nicht mehr auf Grossbanken bezieht, sondern beispielsweise auf das Pflegepersonal oder die Verkäuferinnen.
Oder auf jede und jeder von uns. Oder haben Sie sich in den letzten Monaten noch nie gefragt, warum nicht auch Sie als systemrelevant eingestuft wurden?
Doch von welchem System reden wir denn? Oder besser: von welchen Systemen?
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Was ist denn ein System?
Ich behaupte, dass sich die wenigsten Menschen je einmal überlegt haben, was mit «System» genau gemeint ist, wenn von «Systemrelevanz» gesprochen wird.
Prof. Dr. Oliver Bendel, Professor für Wirtschaftsinformatik, Wirtschaftsethik, Informationsethik und Maschinenethik an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, definiert diesen Begriff wie folgt:
«Systemrelevanz ist die Relevanz (also die Bedeutsamkeit oder Wichtigkeit in einem bestimmten Zusammenhang), die Staaten, Organisationen, Unternehmen, Produkte, Dienstleistungen und Berufsgruppen (respektive ihre Angehörigen) für den Betrieb und die Aufrechterhaltung eines Systems, etwa eines Wirtschafts- oder Gesundheitssystems oder der Grundversorgung, haben.»
Bendels «etwa»-Formulierung zeigt, dass es nicht grundsätzlich um das oder das eine System geht – der Begriff beschreibt einfach die Relevanz für ein bestimmtes oder ausgewähltes System
In der Systemtheorie kennen wir triviale System (Maschinen), biologische (z.B. einen Organismus oder ein Biosystem), psychische Systeme (die sich aus Gedanken und Vorstellungen konstituieren) und soziale Systeme.
Niklas Luhmann unterscheidet drei Formen von sozialen Systemen, welche hierarchisch auf dem psychischen beziehungsweise Individualsystem aufbauen: Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme. Luhmann stellt so die Gesellschaft als einzelne funktionale Teileinheiten dar, welche er als soziale Systeme bezeichnet.
Vereinfacht gesagt konstituieren sich Interaktionssysteme (z.B. Gruppen) durch Kommunikation und Anwesenheit, Organisationen hingegen durch Entscheidungen und Mitgliedschaft.
Doch wie entstehen System, wie werden sie definiert?
Luhmann definiert Systeme als autopoietische (= sich selbsterschaffende) Systeme, welche die Elemente, aus denen sie bestehen, jeweils selbst herstellen. Durch diese Selbsterschaffung sind sie operativ radikal geschlossene Systeme, die aber gleichzeitig auch kognitiv offen sind für Informationen aus der Umwelt.
Systeme definieren sich durch den Unterschied zu ihrer Umwelt indem sie beobachten und operieren, wobei dem Begriff «Operationen» in der Systemtheorie ein spezieller Stellenwert zukommt: Nur ein System kann operieren und nur Operationen können ein System produzieren.
Neben der Autopoiesis zeichnen sich Systeme auch die Selbstreferenz aus: Was im System passiert, wird immer auf das System selbst bezogen. Diese eigenen Erfahrungen werden auf den Kontakt mit anderen Systemen projiziert und beeinflussen diese. Womit auch gleich gesagt ist, dass Systeme anschlussfähig sind.
Die Verbindung von zwei Systemen geschieht über eine strukturelle Koppelung. Wenn beispielsweise eine staatliche Organisation Zahlungen für eine politisch beschlossenes Programm leistet, wird dieses auf der Grundlage eines politischen Programms (= selbstreferentieller Aspekt) ökonomisch (= fremdreferentieller Aspekt) tätig. Für diese Zahlung hat sich demnach das ökonomische und das politische System operativ miteinander gekoppelt.
Eine weitere Eigenheit von Systemen ist die «Pertubation», d.h. dass Systeme durch Störungen lernen und sich permanent verändern, um sich selbst zu erhalten.
Zurück zu den sozialen Systemen.
Dies sind nach Luhmann nicht anderes als Kommunikation – einerseits ist, wenn etwas kommuniziert, dies ein soziales System, andererseits muss jedes soziale System kommunizieren. Das System, nicht der Mensch, der als biologisches System mit seinem Bewusstsein (=psychisches System) meist nur Voraussetzung für ein soziales System ist.
Oder wie Luhmann dies beschreibt:
«Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen.»
Da soziale Systeme wie beschrieben operational geschlossen sind, können auch die Operationen der psychischen Systeme (Bewusstsein, Gedanken) dieses Systems dieses nicht verlassen. Kommunikation muss deshalb über eine strukturelle Koppelung geschehen – eine direkte Übertragung von Gedanken ins Bewusstsein eines Gesprächspartners oder eine direkte Einflussnahme auf den Verlauf der Kommunikation ist demnach gemäss Luhmann nicht möglich.
Das systemische Kommunikationsmodell basiert auf den drei Begriffen «wahrnehmen», «mitteilen» und «verstehen», wobei jede dieser drei Tätigkeiten mit einer Selektion verbunden ist.
Von dem, was wir wahrnehmen, wird nur ein Teil verarbeitet, denn unsere Wahrnehmungen werden gefiltert – wir machen Unterschiede, Verbindungen oder treffen eine Auswahl, die von vielen Faktoren beeinflusst werden kann (aktueller Standpunkt, Ziele persönliche Geschichte etc.). Auf diese Art und Weise entwickeln wir unsere sehr persönliche Sichtweise der Welt, konstruieren ein individuelles Bild der Wirklichkeit, unsere persönliche Landkarte.
Unsere Wahrnehmung teilen wir nun anderen mit, indem wir mit ihnen unsere Landkarte teilen. Und Verstehen ist dann ein mögliches Ereignis des wechselseitigen Austausches und Abgleichen von Landkarten, die Schnittmenge zwischen unseren Landkarten.
Das Ziel der systemischen Kommunikation es damit, Informationen über Unterschiede und Mehrdeutigkeiten herzustellen und Unterschiede in den Sichtweisen zu beschreiben – als «sowohl als auch» statt als „entweder oder».
Wenn wir nun etwas besser wissen, was ein «System» ist und wie systemische Kommunikation funktioniert – was müssen wir unter einer«systemischem Sichtweise» verstehen?
Darüber mehr in meinem nächsten Blogbeitrag.