Ein Begriff wurde in den letzten Monaten beinahe inflationär verwendet: Solidarität.

Solidarität gegenüber der Gastronomie, die schliessen musste.

Solidarität für das Pflegepersonal.

Solidarität gegenüber unseren Nachbarn, unseren Mitmenschen.

Solidarität für eine gemeinsames Neues.

Und seit kurzem auch Solidarität in Bezug auf die bevorstehenden Impfungen.

Solidarität bedeutet gemäss dem Digitalem Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS)

«Auf das Wissen um gemeinsame Interessen und Ziele oder das Zusammengehörigkeitsgefühl sich gründendes Zusammenhalten von Personen oder Personengruppen und ihr Eintreten füreinander sowie die darauf beruhende gegenseitige Unterstützung.»

Doch basiert die während der Krise angesprochenen Solidarität wirklich auf gemeinsamen Interessen und Zielen bzw. auf einem Zusammengehörigkeitsgefühl?

Und: wie solidarisch waren und sind wir wirklich?

Haben wir nur noch lokal oder regional eingekauft, haben wir regelmässig Restaurants und Bars besucht, wie haben wir das Pflegepersonal, wie die Kulturschaffenden, wie die bedrohten KMUs unterstützt?

Als letzte Woche die Gastronomen in Chur gegen die amtlich verordneten Schliessungen demonstrierten, sassen rund 250 Vertreter*innen ihrer Zunft auf Stühlen in der Poststrasse – zu einer grossen Solidarisierung mit dieser Demonstration kam es aber nicht.

Ich hatte schon im Sommer der Führung meiner Arbeitgeberin vorgeschlagen, dass unsere Führungskräfte aber gewissen Stufe auf einen Teil ihres Lohnes verzichten und dieses Geld bedrohten Betrieben im Kanton zur Verfügung gestellt werden könnte. Das wäre aus meiner Sicht gelebte Solidarität gewesen. Denn wir erhalten unseren Lohn auch in Krisenzeiten regelmässig, ohne Abzug, unabhängig eines unternehmerischen Risikos.

Aber meine Botschaft blieb unerhört und meine Solidaritätsaktion auf ein KMU aus meinem engsten Umfeld beschränkt.

Vor Weihnachten erhielten alle festangestellten Mitarbeitenden ein Paket mit einer Flasche Studi-Bier, einem Flaschenöffner mit Logo sowie einem Gastro(s)pass.

Letzterer als Ersatz für das ausgefallene Weihnachtsessen.

Wobei es, soweit ich mich erinnern kann, ein solches in den letzten Jahren für das Gesamtunternehmen nie stattgefunden hat. Und die Anlässe, die jeweils pro Abteilung oder Departement durchgeführt wurden, fanden in diesem Jahr einfach virtuell statt.

Dass unsere Arbeitgeberin mit dem Gastro(s)pass die Gastronomie unterstützt, ist eigentlich lobenswert und grundsätzlich auch ein guter Gedanke.

Nur: Profitieren wird nur rund ein Dutzend Restaurants, in denen die Gutscheine eingelöst werden können. Ein Dutzend von über zweihundert Betrieben in der Stadt (Bars inklusive).

Wenn ich bei geschätzten vierhundert Festangestellten unseres Unternehmens die Kosten für den Gastro(s)pass, für den Einkauf und die Bedruckung des Flaschenöffners sowie die Portokosten zusammenrechne, glaube ich, dass dieses Geld besser und breiter verteilt mehr hätte bewirken können.

Ich werde jedenfalls meinen Gastro(s)pass verschenken an jemanden, der ihn sich im Moment nicht leisten kann.

Mit der Solidarität wurde aber aus meiner Sicht auch die Polarität stärker. Sprachlich wäre «Polarisierung», eine Aufspaltung, bei der Gegensätze deutlich hervortreten, vielleicht korrekter – doch führt dieser Prozess zu dem, was wir heute erleben: Polarität, ein Verhältnis zweier einander bedingender Gegensätze zueinander, Gegensätzlichkeit an sich.

Wenn ich die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern der coronabedingten Massnahmen und ihren Kritikern auf den «Social Media»-Kanälen verfolge, erlebe ich eine ausgeprägte Polarität.

Und ja, es ist ein Verhältnis zweier einander bedingender Gegensätze zueinander, denn würde die eine Seite nicht den Widerstand der anderen spüren, würde die ganze Diskussion wohl ins Leere laufen.

Ich staune, welche emotionale Energie in die Posts und Kommentare gesteckt wird, Tag für Tag, mehrmals täglich. Und wie andere Meinungen heruntergemacht werden, mit persönlichen Angriffen und ohne Toleranz.

Ich bin auch nicht mit allem einverstanden, was im Moment abläuft. Aber ich investiere meine Energie lieber in das, was ich bei mir und in meinem privaten und beruflichen Umfeld ändern und so gestalten kann, dass es für mich und meine Mitwelt passt.

Ich kann kritisch bleiben und trotzdem andere Meinungen akzeptieren. Denn für mich gibt es ein «sowohl als auch», nicht nur ein «entweder oder» – ganz im Sinne der systemischen Kommunikation.

Ich frage mich, ob sich die Kritiker gegen staatlich verordnete Massnahmen in Zukunft auch gegen Verordnungen im Strassenverkehr auflehnen werden. Zum Beispiel gegen aus ihrer Sicht widersinnige Tempo-50-Zonen. Mit der gleichen Vehemenz wie aktuell?

Ich bin ja mit den Tempolimiten auch nicht immer einverstanden…

Aber die Geschwindigkeit dann doch einzuhalten ist für mich so einfach wie dort eine Maske zu tragen, wo es vorgeschrieben ist. Ob ich nun dafür bin oder nicht.

Manchmal kommt mir die Diskussion echt surreal vor und erinnert mich an das deutsche Filmdrama «Die Welle» aus dem Jahr 2008. In diesem lässt ein Lehrer seine Schüler an einer von Disziplin und Gemeinschaftsgeist geprägten und von ihm selbst angeführten Bewegung namens «Die Welle» mitwirken. Das erlebte Gemeinschaftsgefühl begeisterte viele Schüler und entfesselt eine Eigendynamik, die keine anderen Meinungen mehr zulässt und Opponenten als Verräter verurteilt.

Wird die aktuelle Herausforderung als Test genutzt, wie stark die Meinungen über Social Media polarisiert werden können?

Oder wie mit der Ignoranz anderer Standpunkte die eigene Position gestärkt werden kann?

Oder was die stärkere Wirkung hat – Emotionen oder Fakten (die durchaus hinterfragt werden dürfen)?

Oder sind meine Hypothesen vielleicht nur eine (neue) Verschwörungstheorie?

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