Der Lockdown mit der damit verbundenen Aufforderung, zu Hause zu bleiben, bietet uns Zeit für Musse. Diese Zeit für sich und für das zu nutzen, was man selber will, ohne jegliche Fremdbestimmung.
Wobei das in sich schon wieder einen Widerspruch beinhaltet, weil die Zeit, die uns zur Verfügung steht, fremdbestimmt geschaffen wurde.
Die Gefahr ist jedoch gross, dass statt Musse jetzt Langeweile aufkommt. Eine Zeit, die als unangenehm, störend, mühsam oder belastend empfunden wird.
Der Philosoph Martin Heidegger verglich Langeweile mit einem schweigenden Nebel, der alle Dinge, alle Menschen und einen selbst in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammenrückt. Wenn einen nichts mehr anspricht, man an nichts mehr Interesse hat, dann «überkommt» das Ganze das Seiende, so Heidegger. Man befindet sich dann in einer Situation, zu der man keinen Abstand mehr schaffen kann.
Die Langeweile hat verschiedene Erscheinungsformen.
Wenn ich von etwas gelangweilt werde, weiss ich, was die Ursache für meine Langeweile ist. Beispiel: ein schlechter Film, dessen Handlung sich in die Länge zieht.
Ich kann mich aber auch bei etwas langweilen, ohne dass ich eindeutig einen Grund dafür finde. Diese Langeweile ist sowohl von aussen wie auch von innen bestimmt. Beispiel: ich mähe den Rasen, der es wirklich nötig hat, finde diese Arbeit aber eintönig, sie scheint nicht enden zu wollen.
Oder aber die Langeweile ist völlig anonym, hat keinen erkennbaren Grund, keinen Bezug zu etwas anderem.
Langeweile wird oft auch als Warten empfunden – warten darauf, dass ich wieder etwas machen kann (oder darf), dass etwas läuft, geschieht, interessant wird, dass die Langeweile endlich vorbei ist.
Bereits im Mai 2011 hatte ich in meinen «Zeitgedanken» geschrieben:
«Warten fällt uns oft schwer, vor allem dann, wenn wir auf etwas Bestimmtes warten – ob es nun konkret ist oder sich in Form einer gewünschten Veränderung manifestiert, spielt dabei keine Rolle.
Dabei vergessen wir aber, dass das Warten ohne Ziel oder Wunschvorstellung noch viel schwieriger zu ertragen ist. Robert Lauritsch nennt dieses Warten das Warten auf das Ende des Wartens, ein aktives Warten. Dem gegenüber stellt er das passive Warten, welches eine Vorstellung eines Zukunftkonzeptes enthält. Dieses schliesst sich der Gegenwart an und lässt uns darauf hoffen, dass in (naher) Zukunft etwas Erwünschtes oder Anderes eintreten wird.
Diese Hoffnung ist meist verbunden mit einer aktuellen Unzufriedenheit oder der Hoffnung auf Verbesserung – denn wer erwartet schon eine Verschlechterung der Situation! Warten bedingt Aushalten eben dieser aktuellen Situation und Zuversicht, dass sich wirklich etwas ändern wird.»
Während der aktuellen Krise warten wir auf ihr Ende, auf bessere oder zumindest die alten Zeiten.
In der Langeweile scheint die Zeit länger zu dauern, langsamer zu vergehen.
Zeit ist eine physikalische Grösse und kann vieles sein: eine Dimension, ein Momentum, eine unbestimmte oder eine bestimmte Dauer. Wenn wir davon reden, dass die Zeit «vergeht», geht es darum, zu definieren, was das «Jetzt», was die Gegenwart ist. Denn das, was es in der Gegenwart gibt, existiert.
Die Vergangenheit existiert nicht (mehr), die Zukunft (noch) nicht.
Die Physik kennt jedoch nichts, was dem Begriff «jetzt» entspricht. In seinem Büchlein «Sieben kurze Lektionen über Physik» vergleicht Carlo Rovelli «jetzt» mit «hier». «Hier» ist ein subjektiver Begriff, der abhängig davon ist, wo sich der Sprechende befindet. Im Gegensatz zu «jetzt» können aber Dinge auch existieren, wenn sie nicht «hier» sind.
Doch die moderne Physik bzw. die Relativitätstheorie haben gezeigt, dass auch die Gegenwart subjektiv ist. Die Vorstellung, dass Gegenwart im gesamten Universum gemeinsam ist, sei eine Illusion.
Und das universelle Vergehen der Zeit eine Verallgemeinerung.
Trotzdem ist das Vergehen der Zeit für uns erlebbar. Unser Denken und Handeln findet in der Zeit statt – und auch unsere Sprache wird durch die Zeit geprägt und definiert, was «war», «ist» oder «werden wird».
Die Physik vermutet die Antwort auf die Frage, warum wir das Vergehen der Zeit erleben, in der Verbindung zwischen Zeit und Wärme. Konkret heisst dies, dass sich die Vergangenheit und die Zukunft nur dann unterscheiden, wenn Wärme fliesst. Wärme fliesst physikalisch gesehen mit einer grösseren Wahrscheinlichkeit zur Kälte als umgekehrt – so wie der kalte Löffel sich im heissen Tee erwärmt.
Die Physik kann also das Vergehen der Zeit nicht exakt beschreiben. Die Vielzahl von mikroskopischen Variablen erleben wir als Menschen nur als statistische Mittelwerte, welche unser Bewusstsein und unser Gedächtnis entstehen lassen – und unser Erleben von Zeit und deren Vergehen bestimmt.
Wie lange Zeit dauert und wie schnell oder langsam sie vergeht, hängt aber auch damit zusammen, wie wir mit unserer Langeweile umgehen, wie wir sie empfinden.
Oder wie schnell wir sie zur Musse nutzen können.