«Isoliert die Alten, sperrt die 65+-jährigen ein», sind Forderungen, die sinngemäss regelmässig in den Online- und sozialen Medien publiziert werden. Die Risikogruppe soll zuhause bleiben, alle anderen sollen sich aber wieder frei bewegen können und über die gegenseitige Ansteckung eine Herdenimmunität erlangen, welche eine weitere Verbreitung des Virus verhindert.

Das, was Schweden lange praktiziert hat. Bis die Ausbreitung dann doch schneller ging, als die Regierung erwartet hatte und vor allem die Betten auf den Intensivstationen knapp wurden.

Lange hatte die schwedische Regierung an den gesunden Menschenverstand appelliert, Menschenansammlungen nur auf 500 Personen beschränkt, Gastronomiebetriebe und Handel blieben ebenso offen wie die Landesgrenzen. Schülerinnen und Schüler nach dem neunten Schuljahr müssen zu Hause bleiben, Universitäten haben auf Fernstudium und Heimarbeit umgestellt. Erst am 27. März 2020 verschärfte Schweden sein Veranstaltungsverbot auf 50 Personen. Neu wurden nun auch Besuche in Altersheimen verboten.

Zahlreiche Jüngere sehen in den Älteren die Ursache für die Verbreitung des Virus und stören sich daran, wenn diese sich nicht an die «stay at home»- Aufforderung des Bundesrates halten, Einkaufen, Spazieren und Wandern gehen.

Sicher gibt es in dieser Gruppe von Menschen Unvernünftige – wie auch bei den Jüngeren.

Dazu einige persönliche Erfahrungen: Als ich wieder einmal eine Woche in meiner Altstadtwohnung verbrachte, habe ich mir mit kurzen Wanderungen bzw. Spaziergängen auf den Mittenberg – ein Maiensäss östlich oberhalb der Stadt Chur, rund 500 Meter oberhalb der Stadt auf einer Terrasse in einer grossen Waldlichtung auf einer Höhe von rund 1’100 Metern – Bewegung und frische Luft verschafft.

Wie viele andere Churerinnen und Churer auch.

Die meisten davon unter 65-jährig.

Einige davon in Gruppen, die mehr als fünf Personen umfassten.

Andere, die ihre Leistung, den Mittenberg mit dem Bike geschafft zu haben, abklatschend feierten.

Oder zu dritt auf einer knapp drei Meter langen Bank die Aussicht ins Tal genossen.

Und laut hustend ihre beanspruchten Bronchien und Lungen befreiten, ohne den Lenker ihres Bikes loszulassen.

Der Mittenberg bleibt auch während der Krise ein beliebter Ausflugsort – oder wurde gar noch beliebter. Vor allem Wochenende ist der Besucherstrom beträchtlich.

Und damit das «social distancing» zumindest wieder erschwert.

Ein Grund für mich, für meine Wanderungen die Wege auszuwählen, die wenig frequentiert sind – zum Glück gibt es zahlreiche Varianten – und den Aufenthalt oben möglichst kurz zu gestalten.

Natürlich gibt es auch über 65-jährige, die sich nicht an die Regeln halten. Wie ein Stammgast der «Bierhalle» in der Nähe meiner Stadtwohnung. Der nun, da das Restaurant geschlossen ist, seine täglichen und tagelangen sozialen Kontakte in diesem nicht mehr pflegen kann.

Täglich sehe ich ihn über den Martinsplatz spazieren, kurz um die Ecke verschwinden, wieder auftauchen, den Platz erneut überqueren, hinter der Martinskirche verschwinden, um ein, zwei Minuten später wieder zu erscheinen. Innerhalb von fünf Minuten spaziert er damit zweimal an seinem Stammlokal vorbei – als wolle er nicht begreifen, dass dieses geschlossen ist.

Ich hüte mich, diesem Mann Vorwürfe zu machen. Er tut mir einfach leid.

Doch auch die ältere Generation schlägt gegenüber den Jüngeren teilweise einen aggressiven Ton an: «Klimajugend, eure Demonstrationen sind ja nicht mehr möglich – setzt euch doch jetzt für die Nachbarschaftshilfe ein, engagiert euch sozial!»

Die Klimabewegung ist auch in der Schweiz zum Erliegen gekommen. Die von Greta Thunberg initiierten «Fridays for Future»-Demos, welche die Schlagzeilen dominiert haben, sind verschwunden, die Schweizer Klimastreik-Bewegung ist am Boden.

Die Älteren sehen aber auch oft in den Jungen diejenigen, die am meisten Mühe haben, sich an die Anordnungen zu halten. Da sie bei einer Ansteckung mit einem leichten Verlauf der Erkrankung rechnen können, nehmen sie dieses Risiko eher auf die leichte Schulter.

Und vergessen dabei, dass sie – auch wenn die sich selbst nicht anstecken – potentielle Überträger des Virus bleiben.

Was jetzt vermieden werden muss – und je länger die Krise dauert, umso wichtiger wird – ist eine gegenseitige Schuldzuweisung zwischen den beiden Generationen.

Oder wie mein Freund, der ehemalige Allgemeinmediziner, schreibt:

«Die Zahl der Unfälle und Suizide ist momentan in der Schweiz trotz oder wegen Lockdown am Steigen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung nimmt zu, insbesondere der jüngeren Generation. Es muss vermieden werden, dass die Jüngeren das Gefühl bekommen, dass sie wegen der Alten zu Hause bleiben und nicht arbeiten dürfen.»

Denn nur gemeinsam werden wir diese Herausforderung meistern.

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