Wie sehr ist sich ein Mensch bewusst, dass diese seine letzte Reise sein wird?

Dass er das, was er auf dieser Welt so geschätzt und geliebt hat, für immer zurücklassen wird?

Auch seine Liebsten, seine Freunde.

Wann spürt er, dass es soweit ist?

Und wie?

Ist es Angst, Zuversicht oder Freude?

Wann kommt der Moment, wo wir loslassen können statt müssen? Alles.

Wer einen Menschen auf seinem letzten Weg, auf dem Weg zu seiner letzten Reise begleitet, sieht sich unweigerlich mit diesen Fragen konfrontiert.

Oder wird sie sich im Nachhinein stellen.

(Interessanterweise verwenden wir mit «Reise» und «Weg» Begriffe, die einen Prozess, nicht einen Zustand beschreiben.)

Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit unseres Lebens fällt vielen Menschen schwer. Die wenigsten können sich zu Zeiten, in denen es ihnen gut geht, wenn das Ende noch in weiter Ferne zu liegen scheint, darüber nachdenken oder reden.

Lange war es den Menschen gar nicht bewusst, dass das Leben begrenzt ist. Erst während der grossen Pest gegen Ende des Mittelalters wurden die Menschen mit der Endlichkeit ihres Daseins konfrontiert, als ringsherum viele Menschen starben.

Die als «Schwarzer Tod» bezeichnete bisher verheerendste Pandemie der Weltgeschichte raffte zwischen 1346 und 1353 geschätzte 25 Millionen Menschen dahin, was damals rund einem Drittel der Weltbevölkerung entsprach.

Aus aktueller Sicht interessant ist die Tatsache, dass nach neuestem Wissenstand die Pest damals in Zentralasien ausbrach und über Handelsrouten nach Europa gelangte…

Und ebenfalls bekannt scheint uns heute, dass auch damals Verschwörungstheorie auftauchten. Die Leidtragenden waren die Juden, welche verdächtigt wurden, durch Giftmischerei und Brunnenvergiftung die Pest ausgelöst zu haben. Was in Europa in einigen Gebieten zur Auslöschung jüdischer Gemeinden führte.

Dieses neue Bewusstsein, dass es keine Ewigkeit geben wird, führte bereits im Mittelalter dazu, dass die Menschen versuchten, möglichst viel in ihr Leben zu verpacken, möglichst wenig zu verpassen.

Zur Angst vor dem Tod kam die Angst vor dem Versäumnis.

Sicherheit und Beschleunigung wurden erstmals zu lebensbestimmenden Themen.

Der Wunsch nach Sicherheit, die jedem Menschen eine gewisse Mindestdauer für sein Leben garantiert.

Die Lebenserwartung der Frauen lag in dieser Zeit bei etwas 30 Jahren, wenn sie nicht schon vorher bei einer ihrer schweren Niederkünfte verstarben. Und die der Männer bei 40 bis maximal 60 Jahren, sofern sie nicht in ihren zwei Lebensjahren durch Krankheiten dahingerafft wurden. Die hohe Kindersterblichkeit drückte ihre durchschnittliche Lebenserwartung jedoch ebenfalls auf 30 Jahre.

Und Beschleunigung kam auf, um die Differenz zwischen dem Möglichen und dem, was die Welt bietet, möglichst klein zu halten.

Heute ist die Garantie auf eine Lebensmindestdauer eher in den Hintergrund gerückt.

Oder hat sich gar zum Gegenteil gewendet. Die Dauer wird dank medizinischer Versorgung so lang, dass sie nicht mehr für alle Menschen lebenswert ist.

Je nach Umgebung, in welchem wir unseren letzten Lebensabschnitt verbringen, wird uns die Begrenztheit unseres Lebens mehr oder weniger bewusst.

Wenn in einem Alters- oder Pflegeheim fast wöchentlich Bewohnerinnen oder Bewohner sterben, wohl stärker, als wenn wir unseren Lebensabend alleine zuhause verbringen.

Und trotzdem ist immer wieder erstaunlich, wie Menschen, deren Leben uns Aussenstehenden kaum mehr lebenswert erscheint, an diesem hängen, für weitere Tage, Wochen und Monate des Daseins kämpfen.

Bis dann der Moment kommt, an dem sie spüren, dass das Ende unausweichlich ist.

Indem sie beispielsweise von Vorverstorbenen träumen – alles würden sie wissen, bald wieder mit diesen vereint zu sein.

Oder sich mit einer Gewissheit von Angehörigen verabschieden, die einem Wissen näher kommt als einem Spüren.

Und wenn das Reden über das Bevorstehende plötzlich leicht fällt, selbstverständlich wird.

Das angenommen wird, das man nicht abwenden kann.

Man beginnt, sich bewusst und für immer zu verabschieden.

Viele Menschen können nicht sterben, wenn jemand anwesend ist. Das erzählen Pflegefachleute immer wieder. Angehörige warten beim sterbenden Menschen in der Hoffnung, diesen in den letzten Momenten und beim Übergang in einen anderen Zustand oder in eine andere Welt – je nach Weltanschauung – begleiten zu können.

Doch dann wartet dieser auf eine WC-Pause des Angehörigen, dass dieser sich schnell etwas zu Essen holt oder kurz nach Hause geht, um zu sterben.

Vielleicht, weil er schon dann allein sein will, keine (unsere) Unterstützung nicht mehr braucht.

Solche Momente haben auch Wirkung auf uns, die zurückbleiben.

Nicht nur Trauer.

Sie verändern immer wieder unsere Wahrnehmung der Welt, die sich für uns ganz persönlich mit dem Hinschied eines Menschen aus unserem Leben verändert.

Bleibend.

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