So wie das Virus im Sommer abflachte, gingen auch meine Blog-Aktivitäten zurück. Mit dem erneuten Aufflackern («zweite Welle»?) finde ich nun auch wieder zurück zum Schreiben.

Doch das ist nicht einzige Grund, dass ich wieder Lust habe, meine Gedanken zu reflektieren und in einem Beitrag zusammenzufassen…

Im Rückblick auf den ersten Teil der Krise taucht bei mir zuerst der Begriff «Ungewissheit» auf. Die Krisensituation war permanent latent, nicht fassbar.

Ist es wirklich die grosse Pandemie mit aussergewöhnlich vielen Hospitalisationen und Todesfällen, die uns erreicht hat?

Oder ist es einfach eine der üblichen Grippewellen, die früher eingesetzt hat?

Die Ungewissheit war schlimmer als die Angst, angesteckt zu werden.

Der Rückgang der Infektionszahlen im Sommer verhiess Gutes, wir schienen die Krise im Griff zu haben.

Und doch blieb diese Ungewissheit, diese Unvorhersehbarkeit.

Sie ist nicht nur geblieben, sondern wurde verstärkt. Durch die zahlreichen, teilweise widersprüchlichen Expertenmeinungen. Und durch die verschiedenen Darstellungen und Interpretationen der Zahlen.

Zahlen von Infizierten, Zahlen von Hospitalisationen, Zahlen von Toten. Und Zahlen von Tests.

Test, welche in ihrer Unzulänglichkeit die Ungewissheit verstärken.

Bin ich nun infiziert, wenn der Test positiv ist? Oder war ich es, vielleicht Monate zurück? Und ist/war es wirklich Covid-19 oder ein anderes Virus? Und kann ich andere (noch) anstecken?

Die «Weltwoche» vom 14. Oktober 2020 beschreibt, wie die Thurgauer Grossrätin Barbara Müller (SP) in Labors nachfragte, nach welchen Standards die Tests in der Schweiz durchgeführt werden.

«In der Regel werden 36 bis 40 Sequenzen durchlaufen, was eine extrem hohe Sensitivität ergibt. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass längst überwundene Kontakte mit dem Virus zu einem positiven Testresultat führen. Eines der Labore war so freundlich, ihr noch eine Bedienungsanweisung des Tests zu schicken. Und dort steht geschrieben, unter Punkt 1, worauf bereits Mike Yeadon hingewiesen hat: ‘Nur für Forschungszwecke. Nicht für diagnostische Verfahren geeignet.’»

Die aktuelle Jahreszeit mit Kälte und nasskalten Bedingungen bringt erfahrungsgemäss ein höheres Risiko für Infektionen mit sich.

Das gilt nicht nur für das kälteresistente Covid-19-Virus.

Wenn ich sportlich in der freien Natur unterwegs bin, habe ich oft währen der Belastung Atemschwierigkeiten (wegen der kalten Luft), nach der Belastung einen Reizhusten, gereizte Bronchien, verstärkte Schleimbildung.

Wenn mein Immunsystem funktioniert, ist das alles nach einigen Stunden vorbei.

Ich war während den letzten Monaten einige Male mit Menschen zusammen, die stark erkältet waren. Zu einer Ansteckung kam es nicht.

Aber ich habe selbst in den letzten Wochen auch Symptome einer Erkältung erlebt: erhöhte Temperatur, Husten. Muss ich nun einen Test machen, dessen Resultat eigentlich nicht sehr aussagekräftig ist?

Oder hat mich das Virus vielleicht nicht erwischt, weil ich es bereits früher hatte und die Infektion ohne Symptome überstanden habe?

Die Ungewissheit bleibt.

Langsam rollt nun auch die «normale» Grippewelle durch die Schweiz. Damit wird die Abgrenzung zwischen Covid-Infizierten und Grippeerkrankten immer schwieriger. Da tragen auch die Tests nichts zu einer Klärung bei.

In den letzten Tagen habe ich vermehrt gelesen, dass zur Beurteilung der aktuellen Situation eigentlich nur die Todesfallzahlen wirklich aussagekräftig sind.

Und da zeigen die offiziellen Zahlen des Bundesamtes für Statistik («Todesfälle1 nach Altersklasse und Woche, 2015-2020») ein erstaunliches Bild.

In den ersten 40 Wochen dieses Jahres gab es in der Schweiz 51’212 Todesfälle. Das entspricht 99.65% des Mittelwertes aus den Jahren 2017 bis 2019 für den gleichen Zeitraum. Eingerechnet wurde dabei der Tod von Personen mit ständigem Wohnsitz in der Schweiz, unabhängig davon, ob der Tod in der Schweiz oder im Ausland erfolgt ist.

Dieser Vergleich ergibt auch bei den Altersgruppen 0-19 Jahre, 20-39 Jahre, 40-64 Jahre und 65-79 Jahre Werte unter 100, einzig bei der Altersgruppe 80 und älter übersteigen die aktuellen Todesfallzahlen den Mittelwert der letzten drei Jahre (100.8%)

Wenn also wirklich die Todesfallzahlen für die Beurteilung der Corona-Pandemie massgebend sind, entspricht diese einer «normalen» Grippewelle.

Aber die Ungewissheit bleibt.

Der Mensch wünscht sich aber Gewissheit. Lantermann et al schreiben in einem wissenschaftlichen Artikel zur Psychologie der Ungewissheit (uni-kassel.de, ohne Jahresangabe):

«Moderne Lebensverhältnisse sind unsichere Lebensverhältnisse. Auch wenn diese Verallgemeinerung zunächst überzogen erscheint, so beschreibt sie doch eine Tendenz, dass politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahre als Erschütterungen von Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten spürbar werden, die immer breitere Gesellschaftsschichten und Lebensbereiche erfassen.»

Die starke emotionale Ablehnung von Ungewissheit hängt mit dem Verlust von Kontrolle und Vorhersagbarkeit zusammen, die beide für die Handlungs- und Funktionsfähigkeit von Menschen sind.

Doch auch Gewissheit kann diese Handlungs- und Funktionsfähigkeit einschränken.

Wenn beispielsweise in einer Beziehung sich das bestätigt, was man schon länger befürchtet hat und Ungewissheit zu Gewissheit wird.

Oder wenn die Ungewissheit einer schweren Erkrankung zur Gewissheit wird.

Ungewissheit beinhaltet auch immer mögliche Erwartungen.

Doch mit der Gewissheit gehen diese verloren.

Was ist uns lieber, was ist einfacher zu ertragen – ein Leben in Ungewissheit, aber mit Erwartungen, oder ein Leben in Gewissheit, aber ohne Erwartungen?

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