Waren die Massnahmen, die der Bundesrat verordnet hat, angemessen? Oder waren sie übertrieben, sind sie aus einer übertriebenen Angst heraus entstanden?
Eine Frage, die nach einer ersten und kurz vor der zweiten Lockerung immer häufiger gestellt wird.
Eine Antwort ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, da der weitere Verlauf der Pandemie bzw. der Ansteckung nicht mit Gewissheit vorausgesagt werden kann. Verschiedene Modelle berechnen eine mögliche oder gar wahrscheinliche Entwicklung, mehr nicht.
Und die Antwort wird auch nach dem Ende der Krise hypothetisch bleiben.
Versetzen wir uns mal in die Lage der Entscheidungsträger.
Ich habe die Wahl zwischen Massnahmen, die mit grösster Wahrscheinlichkeit die Reproduktionszahlen senken (darum ging es ja vor allem), aber gleichzeitig die Freiheit der Gesellschaft wie auch jedes Einzelnen einschränken.
Oder ich lege den Schwerpunkt auf der Erhaltung dieses Grundrechts, verordne keine Einschränkungen und gehe damit das Risiko ein, dass sich noch mehr Menschen infizieren und sterben.
Eine Entscheidung zwischen zwei Massnahmen, von denen eine irreversible Folgen hat, die andere nicht.
Für mich alleine kann ich das Risiko nehmen – aber auch, wenn ich für andere bzw. für die Folgen für andere, verantwortlich bin?
Immer wieder wird das schwedische Modell als Vergleich herangezogen. Die Pandemie zeigt dort trotz Empfehlungen statt Verboten in etwa den gleichen Verlauf wie in anderen Ländern. Obwohl im Vergleich zu den Nachbarländern die absoluten Zahlen wesentlich höher sind.
Im Vergleich zur Schweiz und in Relation zur Bevölkerungszahl jedoch wesentlich tiefer (21.4 gegenüber 34.2 Fälle/10’000 Einwohner, Stand Tag 52 der Erfassung, www.corona-data.ch).
Wobei oft übersehen wird, dass auch Schweden Massnahmen ergriffen hat: Normalunterricht bis Klassenstufe 9, höhere Klassen im Fernunterricht, Besuche in Altenheimen wurden verboten, Universitäten haben auf Fernstudium und Heimarbeit umgestellt, seit dem 27. März 2020 gilt ein verschärftes Veranstaltungsverbot von maximal 49 Personen.
Ergänzt durch Empfehlungen: Bleib wenn möglich zuhause, reise nicht und halte Abstand, wasche regelmässig die Hände. Ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen sollen die Öffentlichkeit meiden.
Wäre das schwedische Modell nicht auch ein für die Schweiz gangbares Modell gewesen. Umso mehr, als unsere beiden Länder ja so oft gleichgeschaltet – oder verwechselt – werden? Und in beiden Ländern die persönliche Freiheit einen hohen Stellenwert geniesst.
Dass Schweden verstärkt auf Eigenverantwortung und Solidarität setzt, ohne explizit Verbote auszusprechen, hängt jedoch mit der schwedischen Mentalität zusammen.
Die sich von der schweizerischen unterscheidet.
So beschreibt Schwedenkenner Andrea Ullius auf www.schwedenhappen.ch die Schweden als rücksichtsvoll, mit sehr viel Eigenverantwortung , einem natürlichen «Social Distancing» im Alltag (relativ tiefe Besiedlungsdichte und ein hoher Anteil an Singlehaushalten in den Städten), mit grossem Respekt gegenüber der Privatsphäre, die nicht negativ auffallen wollen, anpassungsfähig, sachlich, vernünftig.
Zudem haben die Schweden ein engeres Verhältnis zum Staat als wir, da die Behörden für mehr Belange im täglichen Leben verantwortlich sind als bei uns. Damit haben sie auch ein grösseres Vertrauen in die Behörden und respektieren diese.
Eine Kundgebung gegen die Einschränkungen im Zuge der Coronavirus-Pandemie, wie sie am letzten Samstag auf dem Bundesplatz stattgefunden hat und die von der Polizei aufgelöst werden musste, wäre in Schweden undenkbar.
Das schwedische Modell – so auch die Folgerung von Andrea Ullius – ist für Schweden das richtig. Und kann nicht auf andere Länder übertragen werden.
Auch nicht auf die Schweiz.
Doch warum stören wir uns so daran, dass unsere persönliche Freiheit durch die bundesrätlichen Massnahmen eingeschränkt werden?
Vielleicht weil wir vorher ein so grosses Mass an Freiheit geniessen konnten? In autoritär geführten Ländern werden Einschränkungen sicher weniger gravierend wahrgenommen, da sie bereits Teil des Alltags sind.
Oder weil uns die persönliche Freiheit wichtiger ist als die der Gemeinschaft? Gewisse Anzeichen zu Egoismus gab und gibt es, doch ebenso zu wachsender Solidarität.
Ich habe mal gelernt, dass die persönliche Freiheit dort aufhört, wo sie die Freiheit eines anderen einschränkt.
Oder weil wir uns einfach nicht gerne vom Staat vorschreiben lassen, was wir zu tun haben? Denn für einmal wurden Abstimmungen und Referendum ausser Kraft gesetzt, aufgrund der «ausserordentlichen Lage» einfach verordnet.
In diesem Zusammenhang wird es interessant sein zu beobachten, wie und in welchem Masse der National- und Ständerat nächste Woche die Entscheide des Bundesrats korrigieren und steuern werden, wenn die Demokratie mit der ausserordentlichen Sondersession in den Berner Messhallen wieder hochgefahren wird.
Doch wo ist meine persönliche Freiheit im Moment wirklich eingeschränkt?
Dass ich kein Restaurant besuchen kann? So, wie jeweils am Montag, wenn viele dieser Betriebe zu haben.
Dass ich in gewissen Läden nicht einkaufen kann? So wie jeweils am Sonntag.
Dass ich bis vor einer Woche nicht zum Coiffeur konnte? Den ich seit Jahren schon nicht mehr brauche.
Und dass ich auch erst seit einer Woche wieder mein Auto waschen kann. Mach ich sonst regelmässig. Zwei bis drei Mal pro Jahr.
Dass nicht ins Ausland reisen kann? Wie ich es in den letzten fünfzehn Jahren einige wenige Mal gemacht habe.
Dass ich meine Mutter nicht im Pflegeheim besuchen kann? Ja, das war bis letzte Woche wirklich eine Einschränkung. Die ich aber nachvollziehen kann, da sie mich wie auch meine Mutter schützte.
Ich habe nach wie vor die Freiheit, zu denken, was ich will, meine Meinung zu äussern, meine Zeit (zuhause) so zu gestalten, wie ich will, mich (unter Einhaltung gewisser Vorschriften) in der Natur zu bewegen, Kontakt zu den Menschen aufrechtzuerhalten, die mir wichtig sind (nur auf anderen Kanälen), die Lebensmittel einzukaufen die ich mag (fast alles ist ja noch erhältlich) – und zu wählen, ob ich das Leben geniessen oder mit meinem Schicksal (das unseres ist), zu hadern.
Der zu sein, der ich sein will.
Das ist die Freiheit, die ich meine.
Und die von Max von Schenkendorf (1783–1817) in einem politischen Gedicht beschrieben oder von Peter Maffay im gleichnamigen Song besungen wurde:
Freiheit die ich meine
Freiheit die ich meine
Menschen hetzen ‚rum
Die Gesichter stumm
Augen wirken blass und die Blicke sind wir trübes Glas
Seelen seltsam leer
Es gibt kein Vertrauen mehr
Wir wollten da nie hin
Jetzt sind wir ja mittendrin
Jeder kämpft für sich allein
Will der erste sein
Niemand schert sich ‚drum und wenn du fällst, dann fällst du um
Wer fängt dich oben schon auf
Man will da selbst hinauf
Keiner geht das Stück zurück und wenn er’s tut dann hast du Glück
Denn wenn es irgend etwas gibt
Wofür es sich zu leben lohnt
Ist dass man etwas wirklich liebt
Ist das Gefühl das tief im Herzen wohnt
Freiheit die ich meine
Ist wie ein neuer Tag
Freiheit die ich meine
Ist was man wirklich mag
Frieden den ich meine
Ist ohne blinde Wut
Liebe die ich meine
Ist viel Gefühl und Mut
Gehen wir weg von hier
Hier gibt’s nur Ich statt Wir
Nicht Gemeinsamkeit, nein blosse Einsamkeit
Wer diese Ketten braucht
Der landet auf dem Bauch
Bevor er Fliegen lernt, ist er verhärmt ist er verbraucht
Wer will nicht glücklich sein
Wer ist schon gern allein
Doch vergisst man auch, dass man sich gegenseitig braucht
Der nur nach Erfolgen lechzt
Schaut nicht nach links nach rechts
Hat den Sinn verkannt
Übersieht das Glück am Rand
Denn wenn es irgend etwas gibt
[…]
Komm gib mir deine Hand
Und wir treiben mit dem Wind
Ich will dich strahlen sehen
Will tanzen und will lachen wie ein Kind
[…]